Medikamentensucht - Die Sucht der Senioren

Wer Stefan Buschbacher heute erlebt, kann kaum glauben, dass der Mann sieben Jahre lang ein persönliches Drama durchlebte.
Medikamentensucht - Die Sucht der Senioren
Der Medikamentenmissbrauch bei Schlaflosigkeit kann bei 50plus schlimme Folgen haben.

Der 74-Jährige wirkt kräftig und stämmig, „a ganzer Mann“, wie der Wangener selber lachend sagt, zudem ein geselliger Typ, in dessen Umgebung man sich sofort wohl fühlt. Doch irgendwann fühlte Buschbacher sich nicht mehr wohl. Vielmehr: Er litt. Wie er litt, beschreibt Dirk Grupe auf «schwäbische.de».

"Ich konnte nicht mehr schlafen", sagt er. Und wer die Tage wie unter einer Glocke und die Nächte wie einen Alptraum erlebt, greift irgendwann zu einem Mittel. Zu einer Pille. Benzodiazepine heissen die Stoffe, die den tiefen Schlaf versprechen. Die anfangs auch bei Stefan Buschbacher ihr Versprechen einlösten.

Auf die er fortan aber nicht mehr verzichten wollte. Mit fatalen Folgen. Der Mann aus dem Allgäu steht stellvertretend für Tausende, ja Millionen Deutsche. Die im Alter weniger Schlaf brauchen. Die ihren Partner verlieren und unter Einsamkeit zu zerbrechen drohen. Oder die die Last eines arbeitsreichen Lebens um den Schlaf bringt.

Die ihren Arzt aufsuchen, mit dem verständlichen und sehnlichen Wunsch: "Bitte helfen Sie mir!" Und der Arzt hilft. Stellt ein Rezept aus. Auf das ein zweites folgt, ein drittes und noch viele mehr, oftmals eine Prozedur über Jahre und Jahrzehnte. "Eine Schlafpille zu nehmen, gehört für die Betroffenen zum Alltag", sagt der Apotheker Andreas Röhrle aus Wangen.

"Das ist für sie wie Zähneputzen." Hinter der Routine steht eine meist unausgesprochene Diagnose: Medikamentensucht. Ein Massenphänomen in Deutschland. Die Bundesärztekammer geht von 1,4 bis 1,9 Millionen medikamentenabhängigen Menschen in Deutschland aus.

In etwa 80 Prozent der Fälle handelt es sich dabei um eine Abhängigkeit von Benzodiazepinen und artverwandten "Z-Drugs" (Zolpidem, Zopiclon und Zaleplon), allesamt Schlaf- und Beruhigungsmittel. Zwei Drittel der Süchtigen sollen Senioren sein, mehrheitlich Männer.

"Darüber hinaus", warnt die Ärztekammer "muss eine vergleichbar grosse Anzahl von Menschen als mittel- bis hochgradig gefährdet eingeschätzt werden, eine Medikamentenabhängigkeit zu entwickeln." Nicht nur das: Angesichts des demografischen Wandels prophezeit der Mediziner und Buchautor Dirk Wolter ("Sucht im Alter - Altern mit Sucht"): "Die Zahl der suchtkranken Senioren dürfte sich in den nächsten 25 bis 30 Jahren verdoppeln."

Das sind - ohne jede Übertreibung - dramatische Zahlen. Trotzdem spricht kaum jemand über das Leiden. Geht es um Sucht, dann geht es meist um Alkohol, um Zigaretten oder Haschisch, um harte Stoffe wie Heroin und Crystal Meth. Sie bestimmen die Schlagzeilen und die öffentlichen Debatten.

Beim Thema Medikamentenabhängigkeit werde es dagegen schwammig, meint Thomas Fritschi, Chefarzt der Abteilung Suchterkrankungen am ZFP Weissenau in Ravensburg: "Medikamentensucht wird bei einem Menschen kaum wahrgenommen."

Wer säuft, fällt auf, wer einen Flachmann in einem Aktenordner versteckt, fliegt irgendwann auf. "Wer aber eine Pille und einen Schluck Wasser nimmt, bleibt unbehelligt", sagt Fritschi. Experten nennen das Phänomen daher: die stille Sucht. Nur einer aber weiss immer um das Leiden: der jeweilige Arzt, der für die verschreibungspflichtigen Mittel ein Rezept ausstellten muss.

Was er wider besseren Wissens tut? Offenbar, denn, so Apotheker Röhrle: "Es gibt praktisch keine Indikation für eine dauerhafte Verschreibung von Schlafmitteln, nicht einmal in einem Trauerfall." Richtig, schreibt die Arzneimittel-Richtlinie doch vor, Hypnotica möglichst in geringen Dosen und maximal vier Wochen einzusetzen, "in medizinisch begründeten Einzelfällen auch länger für Versicherte der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)".

In einer Studie der Uni Bremen heisst es dazu: "Diese Rahmenbedingungen haben dazu geführt, dass Hypnotika in Deutschland während der letzten Jahre zunehmend auf Privatrezepten verordnet werden." Im Klartext: Bei mehr als jeder zweiten Packung stellt der Arzt kein Kassen-, sondern ein Privatrezept aus.

Somit taucht die Verschreibung der Hypnotica in keiner offiziellen Statistik der Krankenkassen auf. Kritiker klagen: Dadurch soll der Medikamentenmissbrauch bewusst verschleiert werden. Harter Tobak, ein harter Vorwurf. Doch auch Suchtexperte Thomas Fritschi vom ZFP Weissenau sagt in diesem Zusammenhang: "Es gibt einen Haufen schwarzer Schafe unter den Ärzten."

Mag sein, Apotheker Andreas Röhrle sieht die Mediziner aber auch unter Druck: "Die Ärzte wollen ihren Patienten helfen - für eine umfassende und langfristige Behandlung fehlt ihnen aber schlicht die Zeit." Dazu komme ein Patient mit einer hohen Erwartungshaltung. Sprich, er will schnelle Hilfe.

Und was könnte schon schneller wirken als eine Pille. Sowohl Arzt wie auch Patient befinden sich somit in einer Zwangslage, sie gehen eine unheilvolle Beziehung miteinander ein, die keine Seite beenden will, schon gar nicht der Abhängige: "Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, keine Pillen mehr zu nehmen", sagt Stefan Buschbacher aus Wangen.

"Die Angst war zu gross, nicht mehr schlafen zu können." Mit gutem Grund: Die Schlaflosigkeit hat sein Leben zerstört. Sie hat seine Nerven zerfressen, ihn zu einem gereizten und für Familie wie Freunde unerträglichen Menschen gemacht. Er hat sieben Jahre lang sein Heil in einer Pille gesucht - aber keine Heilung gefunden.

"Anfangs wirkten die Schlafmittel", sagt Buschbacher. Doch die Wirkung nahm ab. Und vor allem: "Durch die schweren Tabletten habe ich mich schwach und antriebslos gefühlt. Morgens wollte ich gar nicht aus dem Bett aufstehen." Seine Altkunden konnte der Installateur kaum noch betreuen, die sozialen Kontakte nahmen ab.

Der Senior lebte wie in einer Parallelwelt. Aus dem einen Leiden war ein anderes, nicht minder schweres geworden. Die Sucht einfach Sucht sein lassen, ist somit auch keine Lösung, weil die Medikamente am Ende eben doch nicht ihre Versprechen halten. Im Gegenteil. "Die Folgen von Medikamentensucht bei Senioren lassen sich absehen an Unfallzahlen und Sterberaten", sagt Chefarzt Thomas Fritschi.

"Und nicht zuletzt an der fehlenden Teilnahme an sozialen Kontakten." Dem Problem liesse sich nur mit Aufklärungsarbeit begegnen: gegenüber der Öffentlichkeit, gegenüber den Betroffenen, den Medizinern und auch den Apothekern. Stefan Buschbacher fand für sich einen eigenen Weg.

Er liess sich im Rahmen eines Projektes zum ambulanten Entzug von Benzodiazepinen von seinem Apotheker Röhrle und seinem Hausarzt beraten. Er änderte seine Schlafgewohnheiten und die Schlafhygiene. Er setzte mit Hilfe der beiden Experten Stück für Stück das Medikament ab.

"So habe ich wieder zurück ins Leben gefunden", sagt der Senior. Und er kann wieder schlafen. Ohne Pille. Nun will er aufklären und reden. Über die schlimmste Zeit seines Lebens. Über die stille Sucht.


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