Glück im Alter
Ist es das goldene Pensionsalter?
Von Suzana Nesic
Strahlend blauer Himmel über den Dächern von Zürich. Ein wunderschöner Sommertag, wie wir ihn aus Fotobüchern kennen. Aus dem Pflegezentrum Käferberg geniessen die Bewohner eine herrliche Aussicht über die ganze Stadt Zürich.
Die Gipfel der Alpen sind noch immer mit einer kleinen Schneeschicht bedeckt. Mehrere Bewohner samt Angehörigen, Besuchern und Pflegepersonal sitzen im Café vor dem Haupteingang der riesigen Überbauung am Hang des Zürcher Hönggerbergs.
Die Bewohnerin Annemarie sitzt entspannt in einem Stuhl vor dem Café, neben ihr liegt ein Buch mit der Aufschrift «Das Café am Rande der Welt». Annemarie Kägi berichtet, wie sehr sie ihr Leben seit ihrer Pensionierung vor 15 Jahren geniesst.
Laut Bundesamt für Statistik hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts die Form der Alterspyramide in der Schweiz von einer «Pyramide» zu einer «Tanne» gewandelt. Über 30 Prozent der Schweizer Bevölkerung haben das Pensionsalter erreicht.
Unsere Gesellschaft wird immer älter. Trotzdem gilt «Forever young» als Utopie der neuen Generation. Ewige Jugend wird durch Sport, Schönheitsoperationen und Kosmetik versprochen und angestrebt. Die Frage nach dem Alter gilt als unhöflich. Die körperlichen Beschwerden nehmen zu. Man wird schwächer. Aber weshalb ist Annemarie seit ihrer Pensionierung trotzdem glücklicher denn je?
Das magische Wort heisst Gelassenheit. Die ständigen Strapazen eines Berufs- und Familienlebens sind plötzlich passé. Die Kinder sind erwachsen und tragen die Verantwortung für ihren eigenen Nachwuchs. Die Verantwortung, die man als Grossmutter für seine Enkelkindern trägt, ist nicht mehr so drückend. Man nimmt das Leben auf die leichte Schulter. Die Erfahrungen haben in der Zwischenzeit das Individuum geformt und geprägt und machen den Menschen zu dem Menschen, der er ist. Der Leistungsdruck, die Erwartungen und die Verantwortungen nehmen ab.
Achtsamkeit ist in jedem Lebensalter wichtig und trägt zur Lebensqualität bei. Gerade ältere Menschen gehen sehr achtsam mit sich um. Denn sie denken in kürzeren Zeitabschnitten. Insofern wählen sie sorgfältig aus: Das sind Tätigkeiten und vor allem Menschen, die einen positiven Effekt auf ihr eigenes Wohlbefinden haben. Man hat unendlich viel Zeit für sich selbst. Zeit für das, wofür man in den vergangenen Jahren keine mehr hatte. Lesen?
So viel du willst- bis dir sogar die Augen zufallen. Schlafen? Wann und wie lange du willst. Annemarie erinnert sich noch: Früher liess sie sich wegen Kleinigkeiten leicht aus der Fassung bringen. Heute vermeidet sie Stress und emotionale Ausbrüche. «In meinem Alter hat man körperlich gar keine Kraft mehr dazu. Deshalb sollte man psychische, aber auch physische Überanstrengungen vermeiden und sich den positiven Dingen im Leben widmen. Man weiss ja schliesslich nicht, wann der letzte Tag sein wird.»
Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Rauch bestätigt 2018 in seinem Buch „The Happiness Curve“ (deutsch: die Glückskurve), Annemaries Auffassung vom Leben im Alter. Die Lebenszufriedenheit scheint einem U-förmigen Verlauf zu folgen, mit seinen beiden Gipfeln: In der Kindheit, wenn die Welt noch entdeckt werden muss und im Alter.
Zwischen 40 und 50 Jahren, wenn unsere Macht, unser Potenzial und unsere Produktivität am grössten sind und wir unser Glück empfinden sollten, erreicht die Lebenszufriedenheit ihren Tiefpunkt. In den späteren Jahrzehnten ändert sich dies in vielerlei Hinsicht. Die Erkenntnis, dass man ein lang ersehntes Ziel vielleicht nie erreichen wird, kann tatsächlich eine positive Erfahrung sein. Nachdem man 40 Jahre lang seine ganze Energie darin investiert hat, Partner oder Abteilungsleiter zu werden, ist der Tag, an dem man akzeptiert, dass es einem frei steht, mit dem Versuchen aufzuhören, eine Erleichterung.
Ein Patentrezept für das Glück im Alter gibt es nicht. Unterschiedliche Studien zeigen verschiedene Einflussfaktoren und empfehlen unterschiedliche Vorgehensweisen. Doch für Annemarie ist klar: „Wer sein Alter in Gelassenheit lebt, löst sich vom Druck und erhöht die Lebenszufriedenheit.“ Jedes weitere Jahr, das man durchlebt, soll als weitere Errungenschaft gesehen und gefeiert werden. Man darf nie vergessen, dem Leben weiterhin einen Sinn zu geben und sich kleine Ziele zu setzen. Glücklich altern ist also eine Frage der individuellen Einstellung.