KIESERS KERNTHESEN
Kraft durch Stühle, Matratzen und Aerobic
Werner Kieser (1940-2021) empfiehlt nur Verfahren, die einen offensichtlichen Nutzen beim gesundheitsorientierten Krafttraining bieten.
Das Eine – "Entspannung" – schliesst das Andere - "Training" - aus. Da ist einmal die simple Definition des Kraftbegriffs: "Kraft ist eine gerichtete physikalische Grösse, die Körper beschleunigen oder verformen kann." Die Höhe der Kraft der Muskeln misst sich daran, welche diese einer anderen Kraft entgegensetzen kann.
Wenn ich eine Badezimmerwaage auf Brusthöhe mit beiden Händen so fest wie möglich zusammendrücke, zeigt die Gewichtsanzeige der Waage die maximalen Kräfte an, hauptsächlich die meiner Brustmuskeln. Wenn ich einen Kräftigungseffekt erzielen will, muss diese Anspannung mindestens 30% meiner maximalen Kraft betragen und mindestens 30 Sekunden dauern.
Dies zu erreichen, bedarf keiner Entspannung, sondern des Gegenteils: der Anspannung. Diese Anspannung zu dosieren und gezielt zu applizieren ist das, was mit korrektem Training erreicht werden soll. Gezielte dosierte Anspannung ist weder mit Bürostühlen noch mit Matratzen, aber auch nicht mit Pilates*, Yoga, Nordic Walking, Aerobic oder was sonst noch an Fitnessmoden im Gespräch ist zu bewerkstelligen.
Das heisst nicht, dass mit diesen Aktivitäten kein Kräftigungseffekt hervorgerufen wird. Zweifellos werden dabei - wie beim Sport generell - bestimmte Muskeln reizwirksam belastet und ein entsprechender Trainingseffekt ausgelöst. Aber dieser ist zufällig, ungezielt, nicht dosiert und führt deshalb unweigerlich zu muskulären Dysbalancen: Bestimmte Muskeln werden stärker auf Kosten anderer trainiert.
Wo immer man der Evidenz solcher Aussagen nachgeht und fragt, "Wie habt ihr den Kraftzuwachs gemessen?", greift man buchstäblich ins Nichts. Und wenn Antworten gegeben werden, bewegen sie sich meist in einem Begriffsfeld jenseits wissenschaftlicher Terminologie.
Apologeten der 1883 (!) entwickelten Dehnungsmethode "Pilates" postulieren eine Kräftigung des Bauches, der tiefliegenden Rückenmuskulatur und gar des Beckenbodens, ohne diese quantitativ nachzuweisen, zumindest habe ich keine solche Studie gefunden.
Damit keiner auf die ketzerische Idee kommt, ohne Stöcke zu wandern, proklamieren die "Nordic-Walker" eine Kräftigung des Oberkörpers dank der Stöcke. Vor etwas über fünfzig Jahren liess ich mich vom damals bekannten Yogalehrer Selvaraja Yesudian (Buch: "Sport und Yoga") in die indische Ritualgymnastik des Hatha-Yoga einführen.
Yoga besteht im Wesentlichen aus Atem- und Dehnungsübungen. Das war für mich nicht nur physiologisch eine interessante Erfahrung, sondern auch erkenntnistheoretisch. Während der Übungen erfährt man in der Tat bestimmte Zustände, die man im Alltag nicht, oder selten, erlebt.
Nur - ich wusste nie genau warum und suchte nach Antworten. Die indischen Begründungen physiologischer Prozesse waren reine Mystik, die für Menschen mit spirituellen Bedürfnissen vielleicht ausreichen, rationale Köpfe aber nicht zufriedenstellen.
Denn es liegen Welten dazwischen, ob man die bei intensiven Atemübungen auftretenden Visionen und Gefühlszustände als quasi geschlechtliche Vereinigung des Gottes Vishnu mit der Göttin Kundalini interpretiert oder ob man sie als quantifizierbares Ergebnis eines erhöhten pH-Blutwerts und dessen hirnphysiologischen Folgen der Hyperventilation erkennt.
Ich komme immer wieder zum Schluss: Es reicht nicht, einfach zu glauben, was man uns erzählt. Das Denken können wir nicht delegieren - oder, wie Berthold Brecht es so schön ausdrückte: "Lass Dir nichts einreden - geh selber hin und schau nach".