Corona-Kolumne
Corona ist eine Epidemie der Experten
Eine realistische Risikoeinschätzung. Das wäre das ideale Szenario. Aber der Mensch ist nicht so. Je nach Vorgeschichte und Sensibilität schliesst er sich zuhause ein, liest jede Verschwörungstheorie und wartet auf das Ende der Welt.
Oder er spaziert durch die Welt, wähnt sich unter einem Schutzschild wie Captain America und hat längst einen Experten gefunden, der ihm bestätigt, dass Corona nicht viel mehr sei als eine starke Erkältung.
Vertreter der Verharmloser ist der vielzitierte ehemalige Amtsarzt und Ex-SPD-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wodarg. Er spielte die Gefahr der Corona-Pandemie herunter. Wodarg hatte im ZDF und in zahlreichen Videos auf YouTube behauptet, es gäbe keine Pandemie, wenn man nicht auf das Virus testen würde.
Der Internist Claus Köhnlein aus Kiel beschrieb das neuartige Coronavirus in einem Interview mit dem NDR als «harmloses Schnupfenvirus», das «überbehandelt» werde. Auf die Frage, ob die Menschen rausgehen und Freunde treffen und feiern könnten, antwortete er, es würde nichts passieren, wenn der Test vom Markt genommen würde. Das Leben würde so weitergehen wie bisher.
Vertreter des Panikorchesters ist das Alarmismus-Portal «20Minuten». Die grösse Medienmarke der Schweiz ist besonders bemüht, den Ängstlichen noch mehr Angst zu machen. Die Push-Meldungen auf dem Handy muten an wie eine Bieterrunde bei der Auktion eines teuren Gemäldes: «Im schlimmsten Fall gibt es 30'000 Tote!», «Höchste Infektionsrate der Welt: Die Schweiz hat mehr Corona-Fälle pro 100'000 Einwohner als Italien», «103 Corona-Tote in der Schweiz: Über 900 neue Infektionen in den letzten 24 Stunden».
Ein Experte für diese Zahlen findet sich immer. Jedes Spital hat einen. Die Schlagzeilenverkürzung eines komplexen Sachverhaltes ist immer ein Problem. Zum Glück für alle Experten und die Medien liegt die Zukunft in der Zukunft. Und Prognosen bleiben nur Prognosen.
Wer es nüchterner halten kann und will, orientiert sich am Bundesamt für Gesundheit. Es ist Sinnbild für die pragmatische, rationale Schweiz, wie wir sie kennen. Wenn niemand Erfahrung mit einem neuen Phänomen wie einer Pandemie hat, sind kühle Köpfe gefragt. Der Bundesrat, von dem kein einziges Mitglied eine solche Situation je erlebt hat, handelt auf nachvollziehbare Art rational.
Mit den Schweizern kann man das machen. Ein Volk, dass via Volksabstimmung auf eine weitere Ferienwoche verzichtet, ist vernunftbegabt. Der Verzicht auf eine Ausgangssperre ist völlig richtig. Parlament und Regierung waren immer gut darin, nur per Gesetz und Erlass durchzusetzen, was auch nachvollziehbar und durchhaltbar ist.
Wenn auf einer Autobahn Tempo 40 bei einer Baustelle signalisiert ist, fährt keiner 40, weil er den Sinn nicht einsieht. Wenn die Menschen vom Staat Hausarrest bekommen und den Sinn dieser Massnahme nicht einsehen, werden sie sich nicht über Monate daran halten.
Interessanterweise ziehen die Schweizer freiwillig ein härteres Regime durch als vom pragmatischen Bundesrat verlangt. Sie bleiben beim schönsten Wetter zuhause, obwohl sie immer noch in Gruppen zu fünft hinaus dürften. Sie fahren kaum mit dem Rennvelo über die Hügel und joggen nicht, obwohl es Gesundheitsminister Alain Berset erlaubt hat. Sie drängen sich am Eingang der Migros oder des Coop nicht vor, warten auf die Einladung, die Läden betreten zu dürfen. Krisen disziplinieren die Schweizer.
Der Wille, die Krise schnell durchzustehen, eint die Menschen und lässt erstaunlicherweise kaum Platz für Egoismen (ausser beim Hamstern von WC-Papier). So ein Volk wünscht sich jede Regierung.
Und hier noch ein paar Informationen zur Ernüchterung von Verschwörungstheoretikern:
Das Corona-Virus stammt nicht aus einem Labor, schreibt das Magazin «Nature Medicine» (das man natürlich auch anzweifeln kann). Dass der Erreger im Labor geschaffen oder von Menschen absichtlich manipuliert wurde, sei nicht plausibel.
Immunologe Kristian Andersen vom US-amerikanischen Scripps Research Institute sagt, sie hätten die verfügbaren Genomsequenzen der bekannten Corona-Virenstämme verglichen und könnten sicher sagen, dass SARS-CoV-2 durch natürliche Prozesse entstanden sei.
Besonderheiten fielen den Forschern in der molekularen Struktur die so genannten Spikes auf. Das sind nach aussen ragende Proteinstrukturen in der Virushülle, mit denen sich das Virus an die Wirtszelle bindet. SARS-CoV-2 kann besonders gut menschliche Zellen infizieren. Andersen und Kollegen argumentieren, dass diese Fähigkeit des Virus durch natürliche Selektion entstanden sein müsse.
Weiteres Indiz für den natürlichen Ursprung des Virus: Wer im Labor ein gefährliches Coronavirus hätte schaffen wollen, so die Forscher, hätte das Grundgerüst eines schon bekannten Virus verwendet, das Menschen krank macht. SARS-CoV-2 ähnelt jedoch vor allem Coronaviren, die auch in Fledermäusen und Pangolinen (Schuppentieren) zu finden sind.
Was den tatsächlichen Ursprung des aktuell grassierenden Virus COVID-19 anbelangt, gehen die Forscher von zwei möglichen Szenarios aus, für die aber noch Beweise ausstehen: Zum einen könnte das Virus von Fledermäusen direkt auf einen Menschen übergegangen sein. Ein solcher Fall ist bislang allerdings noch nie dokumentiert worden. Möglicherweise wurde der Erreger aber auch über einen unbekannten tierischen Zwischenwirt übertragen.
Denkbar wäre aber den Forschern zufolge auch, dass eine harmlose Form des Virus von einem Tier auf einen Menschen übertragen wurde und erst im menschlichen Wirt seine zerstörerischen Eigenschaften erlangte.
Woher ich das weiss? Von der Website des Magazins «GEO». Falls Sie Verschwörungstheorien mögen, weil es Ihnen ein Kontrollerleben bietet und Sie dann wissen, wo der Gegner hockt, dann finden Sie bestimmt einen Experten, der alles widerlegt, was ich geschrieben habe.
Peter Röthlisberger, Partner und Inhaber 50PLUS
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