Kann man einen Seitensprung verzeihen?

«Als mein Mann mich wegen seiner Geliebten verliess, habe ich ihm weiter seine Hemden gewaschen.» Was sagt unsere Kolumnistin dazu?
Seitensprung, Liebe, Untreue, Beziehung
Ein Seitensprung ist schwer zu verzeihen – mit Ausnahmen (Bild: Fotolia)

Als ich von Leserin Sabine diese Geschichte lese, bin ich baff. Kann das sein? Warum tut sie das? 

Ich möchte wissen, wie die Frau ist, die trotz dieser schlimmen Demütigung zumindest äusserlich so gelassen bleiben konnte und besuche sie. Vor mir steht eine attraktive, selbstbewusste und beruflich erfolgreiche Frau Anfang sechzig. Sie lacht viel, erzählt offen.

Der Seitensprung ihres Mannes liegt mittlerweile zehn Jahre zurück. Rainer verlässt sie kurz nach der Silberhochzeit für eine 20 Jahre jüngere Kollegin. „Mit ihr kann ich ausgehen, feiern, das Leben geniessen“ schwärmt er ihr schonungslos von der Neuen vor, kurz bevor er mit dem Koffer in der Hand aus dem Haus geht. 

Für Sabine ist das völlig überraschend, sie weint tagelang. Die Familie, die Freunde, alle reden auf sie ein, raten ihr, sich so schnell es geht scheiden zu lassen. Sabine will das anfangs auch. Aber dann denkt sie an das, was sie mit ihrem Mann verbindet: zwei mittlerweile erwachsene Kinder, ein schönes Zuhause, gemeinsam bewältigte Krisen, und eine tiefe, im Laufe der Jahre gewachsene Liebe. Soll sie das für eine Frau aufgeben, mit der man gut feiern kann? „Ich habe mir damals gedacht: nein. Ich will stark sein, das durchstehen und mein Leben zurück.“ 

Und Sabine entwickelt eine Taktik. Woher sie die Kraft dafür nimmt, kann sie nicht mehr sagen. „Ich hatte ein Ziel. Das machte mich sehr stark.“ 

Statt ihrem Rainer Vorwürfe zu machen oder ihm ihre ganze Verzweiflung vorzujammern, ist sie besonders lieb und zugewandt, macht sich zur unentbehrlichen Vertrauten. Wenn er im noch gemeinsamen Haus die Kinder besucht, macht sie sich schick, hört zu, fragt nach dem Job, kocht ihm etwas Leckeres. Seine Wohnung hält sie wie selbstverständlich auch in Schuss und wenn er fragt, wie es ihr geht, lächelt sie ihn an und sagt „geht schon!“ 

Ausgehen? Feiern? Etwas erotisches Kribbeln? Klar, das ist ganz schön, aber ein Zuhause, Geborgenheit, echte, gelebte Liebe, das hat mehr Qualität. Rainer spürt das auch. Er kommt plötzlich immer häufiger „nach Hause“, lässt sich von Sabine zu einem Glas Wein einladen, geniesst die leckeren Snack, die sie immer liebevoll vorbereitet. Sie führen gute Gespräche, erfahren jetzt Dinge voneinander, die im Laufe der Jahre im Alltag untergegangen sind. Sie entdecken sich neu, werden wieder spannend füreinander und schliesslich bleibt Rainer auch über Nacht...

Sechs Monate nach seinem Auszug fragt Rainer, ob Sabine ihm verzeiht. Die unternehmungslustige Geliebte hat für ihn ihren Reiz verloren. Er möchte zurück. Sabine zeigt ihre Freude nicht, nickt nur stumm. „Er sollte wissen, dass ich jetzt auch etwas sehen will.“ 

Rainer versteht das Signal, erkämpft sich über Jahre das Vertrauen seiner Frau zurück. „Ich habe aus meinem Fehler gelernt und die Schwerpunkte anders gelegt. Mehr Ehe, weniger Freunde und auch weniger Arbeit. Sabine war das Wichtigste in meinen Leben und das habe ich ihr jeden Tag gezeigt.“ Er ist aufmerksam, schenkt ihr Blumen, reist zu den Urlaubs-Zielen, die sie sich wünscht. Die beiden sind heute „glücklicher denn je“, wie sie wie aus einem Munde sagen. Sabine glaubt: „Die Trennungszeit hat uns aufgerüttelt. Wir hatten uns im Alltag verloren. Danach haben wir uns endlich wieder richtig um einander gekümmert.“

Mehr noch: Sabine hat das Erleben der eigenen Stärke verändert. Die Gewissheit, diese schlimme Krise mit Klugheit und Souveränität bewältigt zu haben, hat sie mutig und selbstbewusst gemacht. Sie lässt sich zur Beraterin umschulen und gründet eine eigene kleine Firma gegründet. Rainer bewundert seine Frau: „Sie ist das Beste, was mir passieren konnte. Ich liebe sie sehr!“ Mittlerweile sind sie Grosseltern geworden und geniessen ihr buntes Familienleben.

Auf dem Heimweg bin ich nachdenklich. Liebe ist vielschichtig und es gibt ganz unterschiedliche Blickwinkel. Sabine hat an ihre Ehe geglaubt und ihrem Mann Schwäche verziehen. Sie hat das damit verbundene Leid angenommen und viel ertragen. Damals hat man sie im Freundes-und Bekanntenkreis ausgelacht, hinter vorgehaltener Hand als „dumm“, „schwach“ und „abhängig“ bezeichnet. Heute steht sie als Siegerin da, die zwar mit weinendem Herzen, aber kühlem Kopf die Familie zusammengehalten hat. Eine starke Frau! Ihre Geschichte zeigt, wie verschlungen die Wege zum Glück sein können und dass zu langen Ehen nicht nur Sonnenschein gehört. Meine Frage ist beantwortet: Man kann einen Seitensprung verzeihen! Aber ob man sich auch so gut wie Sabine und Rainer damit fühlt, muss jeder für sich beantworten.

Ihre Andrea Micus
www.andreamicus.de


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