KIESERS KOLUMNE
Wir bewegen uns kraft unserer Kraft
Drei Fachgebiete verstehen sich heute als zuständig, diese Erkenntnis wissenschaftlich zu untermauern und/oder zu verbreiten: Präventivmedizin, Sportwissenschaft und Fitnessindustrie.
Die Präventivmedizin übt sich in Symptombekämpfung (Rauchen, Medikamentenmissbrauch, AIDS usw.). Die Sportwissenschaft bemüht sich, sportlicher Betätigung gesundheitliche Relevanz abzugewinnen und tatsächlich eine Wissenschaft zu werden. Das ist nicht ganz einfach, weil der Sport nicht physiologische, sondern ideologische Wurzeln hat.
Die Fitnessindustrie ist im Erwerbsgedanken stecken geblieben. Willfähig "Kundenwünsche" zu erfüllen, hat sie ihren ursprünglichen Zweck, die Kräftigung des Menschen, aus den Augen verloren. Allen drei Fachgebieten fehlt eine explizite und faktische Ausrichtung mit evolutionstheoretischen Prämissen.
Krankheit, Zerfall, Demenz sind kein "Unglück", obwohl diese im individuellen Fall als solche wahrgenommen werden. Die Evolution hat kein Interesse an unserem Weiterleben nach Erreichen des Reproduktionsalters. Als "Vehikel der Gene" (Dawkins) haben wir - wie alle Lebewesen - mit deren Weitergabe den Job geleistet.
Im Sinne der Evolution sind wir dann schlicht nicht mehr nötig. Während Sie diesen Text lesen, gehen Tausende von Zellen in Ihrem Körper zugrunde. Gleichzeitig werden Tausende aufgebaut. Diesen Prozess nennt man "Leben". In der Jugend überwiegen die Aufbauprozesse - wir wachsen.
Mit zunehmendem Alter überwiegen die Abbauprozesse - wir sterben. Einen Einfluss auf diese Prozesse hielt man lange für unmöglich. 1990 gingen die erstaunlichen Resultate einer Studie von Maria Fiaterone um die Welt. Die Geriaterin erzielte mit einer Gruppe von 86-96 Jährigen innerhalb von acht Wochen im Quadriceps einen durchschnittlichen Kraftzuwachs von 174%, 9% Muskelmassezuwachs und eine erhöhte Gehgeschwindigkeit um 48%!
Dies alles mit einer einzigen Kraftübung für die Oberschenkelmuskulatur, ohne Gehübungen, Koordinationstraining oder sonstige Massnahmen. Zu lange führte das Muskeltraining sowohl als Präventions- wie auch als Therapiemassnahme ein Schattendasein.
Noch in den Achtzigerjahren berichteten mir ältere Kunden, dass ihnen ihr Arzt dringend vom "Kieser Training" abgeraten hätte. Sie sollten etwas "Vernünftiges" machen. Zum Beispiel die damals von der Magglinger Sportschule empfohlene "Schwunggymnastik".
Diese zeitigte zwar ausser Zerrungen keine physiologischen Veränderungen, machte aber angeblich "Freude". Diese wenigen Kunden, die sich der ärztlichen Empfehlung widersetzten, waren wohl die Mutigsten. Aber Tausende verzichteten aufgrund der Ignoranz und Arroganz von "Experten" auf die sinnvollste "anti-aging" Massnahme.
Stattdessen empfahlen (und empfehlen immer noch) die meisten Präventivmediziner das Laufen - je mehr, desto besser, offensichtlich ignorierend, dass länger dauernde Ausdauerleistungen katabol wirken, d.h. die weissen Muskelfasern abbauen. Meine Frau eröffnete 1990 die erste Arztpraxis für Medizinische Kräftigungstherapie. Befreundete Arztkollegen reagierten unterschiedlich.
"Wollt ihr im Ernst Rückenpatienten in diese Maschine stecken?" war die eine Reaktion. "Genau das Richtige!" war die andere, allerdings weniger häufig. Eine positive Beurteilung kam von jenen Ärzten, die buchstäblich "über den Tellerrand" ihrer Profession hinaus sahen.
In der medizinischen Ausbildung ist der anabole (aufbauende) Effekt des Muskeltrainings bis heute kein Thema. Daher liegt das Problem weniger bei den sogenannten Fachleuten, als bei jenen, die ihnen blind vertrauen. Die Gesundheit ist ein zu wichtiges Gut um sie vorbehaltlos an Arzt und Krankenkasse zu delegieren.
Was Not tut ist ein neues Fachgebiet: Aufbau und Wartung des menschlichen Bewegungsapparates jenseits von Sport und Show. Dass ein solches Vorhaben "funktioniert" wird von den meisten Fachleuten bezweifelt ("Die Menschen wollen Spass haben!").
Warum aber funktioniert es bei der Zahnmedizin, deren Kariesprävention und der Parodontose- Prophylaxe (Zahnsteinentfernung)? Letztere wurde von wenigen Pionieren vor 50 Jahren gegen den Widerstand vieler Zahnärzte durchgesetzt; eine simple, geradezu "primitive" Massnahme, die der Volkswirtschaft Milliarden einspart und die Lebensdauer der Zähne verdoppelt bis verdreifacht.
Das bedeutet eine beträchtliche Erhöhung der Volksgesundheit und der Lebensqualität. Es besteht kein Grund, diesen Gedanken nicht auch auf den Bewegungsapparat zu übertragen. Denn dieser ist aus evolutionstheoretischer Sicht bedeutungsvoll.
Warum? Die Pflanze braucht keinen Bewegungsapparat; sie steckt mit dem "Magen" in der Nahrung. Und ihre Reproduktion wird von den Bienen und dem Wind besorgt. Unsere Situation ist nicht so komfortabel. Wir müssen Nahrung suchen und auch bei der Fortpflanzung helfen uns weder Wind noch Bienen: wir müssen uns zur Nahrungs- und Partnersuche bewegen.
Die "Motoren" aller Bewegungen sind die Muskeln. Ohne deren Kraft rühren wir uns nicht von der Stelle. Die inneren Organe sind lediglich die "Diener" der Muskeln. Diese beliefern sie mit Nahrung und Sauerstoff und entsorgen die Endprodukte des Stoffwechsels.
Wenn die Muskeln keine Widerstände mehr überwinden müssen, haben die inneren Organe nichts mehr zu tun und werden krank. Was nicht gebraucht wird, verkommt. Dass noch nicht alle mit unserer Gesundheit Beauftragten diesen Sachverhalt in seiner Totalität erkannt haben, liegt auch an der Partikulierung des medizinischen Fachgebiets.
Als Neurologen, Urologen, Kardiologen usw. kennen sie ihr Fachgebiet gründlich, sind sich aber des Gesamtzusammenhanges selten bewusst. Die Muskeln werden selten krank. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass sie lange nicht im Fokus der medizinischen Forschung standen.
Noch heute wird die mit der Inaktivität einsetzende Abwärtsspirale der Rückbildung von Muskeln und Knochenmasse von Betroffenen wie Ärzten oft schicksalsergeben hingenommen. Im Kieser Training London erzählte uns eine Kundin amüsiert, dass sie eine Woche nach der letzten Osteoporose-Kontrolle nochmals einbestellt wurde, weil die Ärzte glaubten, sie hätten die Röntgenbilder verwechselt: die Knochen (Wirbel) hatten Substanz aufgebaut!
Das überschritt offenbar den Erfahrungshorizont des Klinikpersonals. Hier läge auch eine Chance für die Fitnessbranche. Weg von "Kuschelfitness" zu wirklichem Training. Eine Azidose hat nun mal keinen "Spassfaktor", ist aber genau das, was notwendig ist, um einen Effekt zu erzielen.
An der Tatsache, dass Training Anstrengung bedeutet, kommen wir nicht vorbei. "Wellness" mag alles Mögliche bewirken, nur keinen Trainingseffekt. Und keine noch so teure Matratze macht einen "starken Rücken". Solange derartiger Unsinn unwidersprochen verbreitet wird, lebt der Glaube an ein Leben in Schmerzfreiheit, Kraft und Schönheit ohne Anstrengung weiter.
Doch glücklicherweise ändern sich die Zeiten. Max Planck soll gesagt haben: "Fortschritt gibt es, weil die Autoritäten sterben." So gibt es Platz für jüngere Kräfte, solche die noch nicht lebenslange Irrtümer zu verteidigen haben.